- Restauration und Ultramontanismus: Zurück nach Rom
- Restauration und Ultramontanismus: Zurück nach RomDie Abdankung Napoleons 1814 hatte den Weg für eine Kirche freigemacht, die - von den Bindungen an das Staatskirchentum befreit - den Sprung zur Welt- und Universalkirche hätte vollziehen können. Statt dessen wandte man sich im gesamten katholischen Raum zunächst rückwärts; die Restauration der Vergangenheit wurde zum alles bestimmenden Kriterium der Kirchenpolitik. Im vorläufig wiederhergestellten Kirchenstaat war man darauf bedacht, alle Spuren der napoleonischen Ära bis hin zur Abschaffung der Straßenbeleuchtung, die der französischen Besatzungszeit entstammte, zu beseitigen. Das Pontifikat Leos XII. in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts ist ein nachhaltiges Zeugnis für die konservative Haltung dieses Papstes: Nachdem bereits zuvor der Jesuitenorden und die Indexkongregation wiedererrichtet worden waren, verurteilte der Papst die Bibelgesellschaften und erneuerte die gerade überwundene Diskriminierung der Juden in der Gesetzgebung. In den ebenfalls wieder eingeführten Kollegien zur Ausbildung des auswärtigen Klerus bildete man eine Priesterschaft heran, der die Hochschätzung des Papsttums gewissermaßen ein Herzensanliegen sein sollte. Doch darf dies alles nicht darüber hinwegtäuschen, dass die neue Hinwendung zum Papsttum, der Ultramontanismus - lateinisch »ultra montes« meint die Orientierung nach dem »jenseits der Berge« (der Alpen) liegenden Rom -, auch unter den Laien zahlreiche Anhänger hatte. Oft handelte es sich bei ihnen um ehemalige Anhänger des Rationalismus oder um Konvertiten, für die das Papsttum eben kein Auslaufmodell einer vergangenen Epoche darstellte, sondern einen schützenden Hafen in einer Zeit voller Unsicherheiten und Umbrüche.Die Politik der Restaurationspäpste zielte auf die völlige Wiederherstellung der päpstlichen Autorität und die Durchsetzung einer zentralistischen Kirchenstruktur, die bisher immer am Widerstand der starken Landeskirchen gescheitert war. Unterstützt wurde sie durch den zum Katholizismus konvertierten Politiker de Maistre, der Unfehlbarkeit und Papsttum als Garanten für Stabilität und Ordnung verstand. Der Theologe und Schriftsteller Lamennais erwartete vom Papst als wahrem Souverän gar eine gesellschaftliche Erneuerung und brachte das soziale Gefälle und die Bildungsdifferenz zwischen dem einfachen Volk und der Oberschicht ins Spiel: »Die Revolution ist nicht in den Völkern, sondern in den Kabinetten; die Völker wollen die Religion, und die Regierungen verweigern sie ihnen!« Seit den ausgehenden Zwanzigerjahren erfolgte bei Lamennais ein Umdenken. Er verschmolz Liberalismus und Ultramontanismus miteinander und verstand sich und seine Anhänger fürderhin als liberale Katholiken; ihr Sprachrohr war die Zeitschrift »L'avenir« (»Die Zukunft«). Auch wenn sich die von ihr propagierte Spielart des Katholizismus in ihrem Entstehungsland Frankreich nicht durchsetzen konnte, so fand sie doch ihren Niederschlag in der freiheitlichen Verfassung Belgiens von 1831 und ermöglichte dort die Annäherung der Kirche an eine moderne Gesellschaft.Gregor XVI. verhalf dem Ultramontanismus kirchenamtlich endgültig zum Durchbruch. Nicht nur, dass er die ausgeprägte Andachtsfrömmigkeit und den Personenkult um das Papsttum weiter förderte, auch Intoleranz gegenüber Andersdenkenden war an der Tagesordnung. So verurteilte seine Enzyklika »Mirari vos« nicht nur global die Ideen der Zeitschrift »L'avenir«, sie verwarf mit Rationalismus, Gallikanismus und Indifferentismus auch die mühsam durchgesetzten Errungenschaften der Aufklärung, ebenso »den Irrtum oder vielmehr Wahnsinn« - wie Gregor es formulierte - der Gewissens- und Meinungs- und Pressefreiheit. Damit hatte sich die Kirche einmal mehr gegen die Aufklärung als Ganze und gegen alle relevanten Strömungen ihrer Zeit gestellt und führte die Katholiken mehr und mehr ins intellektuelle Ghetto.Der Ultramontanismus bezog seine Leitbilder aus der Vision einer universellen päpstlichen Weltherrschaft, der Erneuerung der Scholastik und der Volksfrömmigkeit des Mittelalters. Die verbesserte Ausbildung und größere Motivation des Klerus wirkte sich dabei durchaus positiv auf die Situation der Gemeinden aus. Intensivierte Predigt und katholische Bildungsveranstaltungen für Priester und Laien unter der Regie der Jesuiten förderten allerdings eher äußerliche Frömmigkeitsformen wie Marien-, Heiligen- und Reliquienverehrung, von denen man sich ein besonderes Gegengewicht gegen den Rationalismus versprach. Dabei verstand man es aber nicht - und beabsichtigte wohl auch gar nicht -, das gebildete Bürgertum und die Arbeiter in diese erneuerte Pastoral mit einzubeziehen. So wirkte die demonstrative Zurschaustellung des Heiligen Rockes, des Leibrocks Christi in Trier 1844, in dem Jahr also, in dem der Weberaufstand vom preußischen Militär blutig niedergeschlagen wurde, auf aufgeklärtere Zeitgenossen als Provokation, während sie andererseits mehr als eine Million Pilger anzog. Insgesamt ging mit der erneuerten Pastoral auch eine deutliche Zunahme von Volks- und Aberglaube einher. Neben der offiziellen Propagierung eucharistischer Frömmigkeitsformen mit häufigem Kommunionempfang sowie Anbetung und Aussetzung von Hostien erlebte - gefördert vor allem durch die Marienerscheinungen von Lourdes - die Marienverehrung eine neue Blüte und konnte die Herz-Jesu-Verehrung zum Massenkult des 19. Jahrhunderts aufsteigen. Ganze Familien, Gemeinschaften, Bistümer, ja sogar Nationen, wie die belgische, weihten sich dem Herzen Jesu; 1875 verstieg sich Pius IX. sogar dazu, auf ausdrücklichen Wunsch etlicher Bischöfe die ganze Welt dem Herzen Jesu zu übereignen.Diese Entwicklung verstärkte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch, als nach der Revolution von 1848 auch im katholischen Bereich ein reges Vereinsleben entstand, dessen Träger die Laien waren. Solche Vereinigungen erfassten bald alle gesellschaftlichen Bereiche vom sozial-karitativen bis zum politisch-kulturellen Spektrum. Dieses »Bündnis von Kirche und Volk« konnte einerseits die kirchlichen Interessen vor Angriffen des Sozialismus und liberaler Kirchenpolitik bewahren, andererseits gingen gegen Ende des Jahrhunderts daraus bedeutsame Zusammenschlüsse wie der »Volksverein für das katholische Deutschland« von 1890 oder die diversen Arbeitervereine hervor. Ebenso etablierten sich kirchennahe Parteien wie die Zentrumspartei, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Politik im Sinne der Kirche machten.Dr. Ulrich RudnickGeschichte der katholischen Kirche, herausgegeben von Josef Lenzenweger u. a. Neuausgabe Graz u. a. 1995.Geschichte des Christentums, Band 3: Krumwiede, Hans-Walter: Neuzeit. 17.—20. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 21987.Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur, herausgegeben von Jean-Marie Mayeur u. a. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Norbert Brox. Band 11: Liberalismus, Industrialisierung, Expansion Europas (1830—1914). Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 1997.Grane, Leif: Die Kirche im 19. Jahrhundert. Europäische Perspektiven. Aus dem Dänischen. Göttingen 1987.Moeller, Bernd: Geschichte des Christentums in Grundzügen. Göttingen 61996.
Universal-Lexikon. 2012.